Die Isla del Sol (auf Spanisch „Sonneninsel“) im Titicacasee ist ein Ort, der nicht nur geografisch besonders ist, sondern auch energetisch. Seit Jahrhunderten wird erzählt, dass hier starke Energielinien der Erde, oft als Ley-Linien oder Chakrenpunkte bezeichnet, zusammenlaufen. Für viele indigene Gemeinschaften gilt die Insel als einer der heiligsten Orte der Anden.

Hier wurden laut Inka-Mythologie die ersten Menschen erschaffen. Der Beginn einer Hochkultur, die sich heute so schlicht, so menschlich, so nah zeigt.

Als ich 2018 mit meinem Bruder von Bolivien in Richtung Peru reiste, verbrachten wir einige ruhige und friedliche Tage auf dieser Insel. Vielleicht lag es an der besonderen Energie dieses Ortes, dass sich alles leichter, klarer und gleichzeitig tiefer anfühlte. Als würde die Zeit für einen Moment stillstehen.

An einem dieser Tage sahen wir ein Kind, das einen Esel entfesselte. Ein stiller Moment — und dennoch kraftvoll, berührend.

Der Esel — ein Tier mit einer Kraft, die ein Kind niemals halten könnte — stand ruhig da, fast ergeben in die Beziehung, die zwischen ihnen bestand. Obwohl der Esel mit seiner Kraft die Fesseln jederzeit sprengen konnte, blieb er unbewegt auf derselben Stelle stehen. Vielleicht aus Vertrauen, vielleicht aus Angst, vielleicht aus Verbundenheit, vielleicht aus Abhängigkeit.

Und das Kind, höchstens acht oder neun Jahre alt, übernahm diese Aufgabe mit einer Selbstverständlichkeit, die mich berührte. Dort, wo wir im Westen Kindheit oft mit Leichtigkeit, Spiel und unberührter Freiheit verbinden, tragen Kinder in anderen Kulturen verantwortungsvolle Aufgaben, die größer wirken als ihre Körper.

Nicht aus Zwang, sondern als Teil des familiären Gefüges — als Beitrag, als Verbundenheit. Als Teil eines gemeinsamen Lebens.

Ich hatte den Esel bereits den halben Tag in der Sonne angebunden gesehen. Und als der Junge ihn schließlich von der Fessel löste, fragte ich mich unweigerlich:

Was bedeutet Freiheit wirklich?
Ist der Esel frei, weil er laufen kann?
Ist das Kind unfrei, weil es Verantwortung trägt?
Oder ist es vielleicht umgekehrt?

Aus diesen Gedanken heraus entschied ich mich für dieses Zitat:

„Wahre Freiheit ist nicht die Abwesenheit von Fesseln, sondern das Wissen, welche uns wirklich festhalten.“

Der Esel war stark genug, jede körperliche Fessel zu sprengen — und blieb doch. Das Kind war klein, scheinbar schwach — und trug dennoch Verantwortung: selbstverständlich, präsent, verbunden.

Es heißt, Verantwortung sei die Freiheit des Erwachsenen. Und vielleicht ist das wahr.

Denn das Kind war frei von unzähligen Ablenkungen und Möglichkeiten, die Kinder im Westen oft haben — frei von Trends, von Reizüberflutung, von dem Druck, immer mehr sein oder tun zu müssen.

Wir definieren Freiheit oft als „frei sein für etwas“: alles konsumieren zu können, alles zu erleben, alles zu wählen.

Doch bedeutet Freiheit nicht auch, frei von allem zu sein?
Frei davon, getrieben zu sein?
Frei davon, jedem Impuls oder Trend folgen zu müssen?