Geschichten zum Kalender – Augenblicke, von Mensch zu Mensch

Jeder Monat dieses Kalenders trägt ein Bild,
und jedes Bild trägt eine Geschichte.

Es sind Geschichten von Menschen, die mir auf meinen Reisen begegnet sind —
von Momenten, die sich nicht planen lassen,
sondern die uns finden.
Manchmal zufällig,
manchmal geführt.

Diese Geschichten sind Einladungen:
zum Nachspüren, zum Innehalten, zum Nachdenken.
Sie erzählen von Menschlichkeit, von Tiefe, von Verbindung,
von der Vielfalt unserer Welt
und den Fäden, die uns alle miteinander weben.

Möge jede Geschichte dich berühren,
Anklang in deinem Herzen finden
und einen Augenblick lang daran erinnern,
dass wir Menschen einander näher sind,
als wir glauben.

Klicke auf die Monate und lass die Bilder sprechen.

JANUAR – Fès, Marokko

Fès war eine der ersten Städte, die ich 2010 in Marokko besucht habe. Damals kannte ich solche Orte nur aus Geschichten — aus Aladdin, aus 1001 Nacht, aus Erzählungen über ferne Welten, in denen Gassen lebten und Farben sprachen. Als ich zum ersten Mal durch diese Stadt ging, war es, als würde eine dieser Geschichten Wirklichkeit werden.

Es war überhaupt meine erste richtige Reise. Sie begann ganz unscheinbar — mit einem günstigen Flug nach Spanien. Nach nur einem Tag setzte ich über eine Begegnung mit der Fähre nach Marokko über, ohne Plan, ohne Erwartungen. Und genau dadurch begann sich etwas Unberechenbares zu öffnen: Die Reise entwickelte sich von selbst. Ich folgte keiner Route, keinem Plan, sondern meinem Gefühl — einem inneren Kompass, der mich in Resonanz mit der Welt leitet. Und sie prägte alles, was danach kam: dieses Vertrauen, mich von Städten, Wegen und Begegnungen führen zu lassen.

Die Souks von Fès fühlten sich an wie ein lebendiges Labyrinth. Verlaufen gehört hier zum Programm, denn die Medina ist eine der größten und ältesten der Welt — mit über neuntausend Gassen, die sich Jahrhunderte kaum verändert haben. Je tiefer man hineingeht, desto mehr verschwindet die Zeit. Händler rufen, Gewürze duften, Schritte hallen über Steinböden, die schon Generationen getragen haben.

Und dann, mitten im Gewirr, tauchen Menschen auf, die wirken, als seien sie selbst Teil dieser alten Mauern — ruhig, verwurzelt, im Rhythmus ihres Raumes. Der Mann auf diesem Bild verkörpert für mich genau das: eine Stille, die nicht von außen kommt, sondern aus einer tiefen Verbindung mit sich und der Welt.

Wenn ich heute an dieses Zitat denke — Der Weg zeigt sich denen, die ihn gehen — dann ist es diese Reise, die mir als erste in den Sinn kommt. Ich habe damals gelernt, dass Wege entstehen, wenn man losgeht. Dass man geführt wird, wenn man vertraut. Und dass sich das Leben manchmal gerade dort offenbart, wo wir kein Ziel haben, aber ein offenes Herz.

Fès erinnert mich bis heute daran, wie sehr der Lebensfluss uns trägt,
wenn wir bereit sind,
uns ihm hinzugeben.

FEBRUAR – Diyarbakir, Türkei

Als ich damals in die Türkei reiste, war mein ursprüngliches Ziel das Dorf meiner Eltern. Ich wollte sehen, wo meine Wurzeln liegen, wo meine Familie gelebt, geliebt und gelitten hat. Doch nach wenigen Tagen zog es mich weiter. Ich folgte dem inneren Ruf, meine kurdischen Wurzeln zu erkunden.

Die Reise führte mich zuerst nach Hasankeyf, einer der ältesten Städte der Welt. Ein Ort, der über zehntausend Jahre hinweg Könige, Völker und Zivilisationen erlebt hatte — und der heute größtenteils unter dem Wasser eines Staudamms verschwunden ist. Ich hatte das Glück, die Stadt noch zu sehen, bevor sie im wahrsten Sinne des Wortes unter Wasser versank. Das Wissen darum machte jeden Moment sehr kostbar, sogar heilig.

Und schließlich erreichte ich Diyarbakir — eine Stadt, die ich lediglich als größte kurdische Stadt der Türkei kannte. Schwarze Basaltmauern, die einst römische, persische und mesopotamische Zeiten gesehen haben; Straßen, in denen Sprachen, Kulturen und Geschichten miteinander verschmelzen; gastfreundliche Menschen, deren Wesen Tiefe trägt.

Als ich an diesem Tag durch die Stadt ging, fiel mir ein Mann auf, der auf einer kleinen Wiese neben einer vielbefahrenen Straße lag. Sein Rücken ruhte auf einem schmalen Holzhocker, der ihn stützte — und seine Haltung war so ruhig und selbstverständlich, als würde er einfach zum Bild dieser Straße gehören.

Ich ging weiter, durch die Gassen und den Trubel der Altstadt. Als ich später erneut an derselben Stelle vorbeikam, lag er noch immer dort — in derselben Position, mit derselben Gelassenheit, unverändert wie ein stiller Punkt inmitten der Bewegung.

Nichts an ihm wirkte gehetzt, nichts suchend oder beschäftigt. Dort lag er, inmitten des Straßenlärms, mit einer Ruhe, die mich überraschte. Es war diese Selbstverständlichkeit, mit der ihn dort liegen sah, die mich innehalten ließ.

Genau hier zeigt sich für mich der große Kontrast zur westlichen Welt:

Es scheint, als ob im Westen Beschäftigtsein oft als Tugend gilt und Untätigkeit als Schwäche.

Im Orient jedoch hat Ruhe ebenso Raum. Sie darf sein. Sie wirkt nicht ungewöhnlich, nicht erklärungsbedürftig. Sie ist vor allem Teil des Wesens der Menschen.

Genau das nehme ich von diesen Reisen mit: dieses Gefühl von Gelassenheit, das sich in mir ausbreitet, diesen Raum, der sich öffnet, diese Zeit, die sich weitet.

Und immer wieder erinnert mich der Orient daran, meinen eigenen Rhythmus zu bewahren — unabhängig von dem Takt, der im Westen vorherrscht.

Darum entschied ich mich für das Zitat:
„Ohne Pausen wäre jede Musik nur Lärm.“

Auf dieser Reise habe ich verstanden, dass das Leben Pausen nicht nur erlaubt, sondern braucht.

Solche Reisen lehrten mich, dass Gelassenheit keine Belohnung sein muss.
Sie ist eine Haltung.
Ein innerer Rhythmus.
Ein Zuhause, das wir in uns selbst finden.

MÄRZ – Diyarbakir, Türkei

An diesem Tag in Diyarbakir sah ich zwei Brüder auf einem Motorrad an mir vorbeifahren — der ältere vielleicht vierzehn, der jüngere kaum sieben oder acht. Das Motorrad war schwer beladen, vollgestapelt mit Dingen, die sie für die Familie transportierten: Materialien für Handwerker, vielleicht Metallreste oder Müll, den Kinder dort häufig einsammeln. Nichts daran wirkte leicht. Es war sichtbare Schwerstarbeit für einen Körper, der eigentlich noch spielen sollte.

Der ältere Bruder saß vorne, aufrecht, konzentriert, mit einer Ernsthaftigkeit, die mich erschütterte. Der jüngere hielt sich fest, vertraute blind, als wäre sein Bruder nicht nur ein Fahrer, sondern sein Schutz, sein Halt, seine ganze Orientierung.

Und während sie vorbeifuhren, fragte ich mich, wo ihre Kindheit ist. Wie viel Raum bleibt für Unbeschwertheit, für Spiel, wenn die Verantwortung so früh auf den Schultern liegt?

Denn genau das sah ich in diesem Moment: ein Kind, das nicht nur ein Motorrad steuert, sondern die Last einer Familie trägt. Nicht aus Zwang, sondern aus Zugehörigkeit — aus der Selbstverständlichkeit des Miteinanders.

Solche Bilder begegnen einem häufig außerhalb Europas. Kinder, die arbeiten, weil sie gebraucht werden. Weil jede Hand zählt. Weil ihre Rolle im Familiengefüge nicht kleiner ist als die der Erwachsenen.

Und doch war da etwas, das mich tief berührte: die Verbundenheit der beiden Brüder. Der eine führt, während der andere vertraut. Gemeinsam tragen sie mehr, als man einem Kind jemals zumuten möchte — und gleichzeitig tragen sie eine Lebenserfahrung, die Kinder im Westen so nie machen.

In solchen Momenten wird mir bewusst, wie relativ Reichtum ist. Wie wenig er mit Besitz zu tun hat. Wie viel mit Verbindung, Wertschätzung und Zusammenhalt.

Das Bild erinnert mich daran, dass wahrer Reichtum oft dort zu finden ist, wo Menschen füreinander da sind,
wo Liebe gelebt wird
und wo die Natur als kostbares Geschenk wertgeschätzt wird.

Alles, was Geld nicht kaufen kann.

APRIL – Madre de Dios, Peru

2018 reiste ich für zwei Monate mit meinem jüngeren Bruder durch Südamerika — eine Zeit, die uns nicht nur näherbrachte, sondern uns auch spiegelte. Vor allem aber hat sie eine Freude in uns hervorgebracht, die wir miteinander teilten: die Offenheit für Begegnungen, das Staunen über die Welt und dieses brüderliche Gefühl, getragen zu sein und sich gleichzeitig gegenseitig Halt zu geben.

Die Reise begann in Bolivien, führte uns weit in den Süden bis nach Chile und dann zurück nach Peru. Wir überquerten den Titicacasee, durchstreiften das Heilige Tal und reisten schließlich weiter in den Regenwald von Madre de Dios.

Dort besuchten wir auch einen indigenen Stamm, den ich bis heute nicht vergessen kann. Wir lernten Bogenschießen, probierten ihr Essen, hörten Geschichten über ihre Kultur und über die unsichtbaren Fäden, die alles miteinander verbinden.

Am meisten berührte mich der Häuptling selbst. Seine Art war eine Mischung aus Tiefe und einer kindlichen Verspieltheit — eine Leichtigkeit, die neben seiner Würde in seinen funkelnden Augen existierte, ohne sie zu mindern. Er trug seine Kultur nicht nur in seiner Kleidung oder in der Art, wie er sich bewegte, sondern in seinem ganzen Wesen. Sein Dorf, sein Auftreten, seine Geschichten — alles schien darauf ausgerichtet, etwas zu bewahren, das er als Geschenk an die nächste Generation weitergeben wollte.

Und dann begann er zu musizieren.
Er spielte eine traditionelle Bambusflöte aus der Region — schlicht, warm und leicht in den Händen, aber voller Seele. Der Klang war weich und erdig. Es war diese Musik, die mich am tiefsten erreichte. Nicht laut, nicht hart — eher ein Ausdruck von innen nach außen, ein Atemzug der Ahnen, der sich durch ihn Bahn brach.

In seinen Melodien lag lebendige Geschichte. Man spürte die Generationen, die durch seine Stimme und durch sein Instrument weiterklangen — seine Ahnen, seine Kinder, sein Volk.

Darum habe ich mich für dieses Zitat entschieden:

„Wir haben die Erde nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen.“

Dieses Zitat wurde mir schon als Kind mitgegeben, doch damals verstand ich es nicht.
Für mich klang es weniger wie ein Geschenk und mehr wie eine Bürde — als hätte ich als Kind die Verantwortung für all das Ungleichgewicht der Welt übernehmen müssen.

Ich fragte mich: Sollte es nicht eigentlich ein Geschenk der Erwachsenen sein, die uns eine schützenswerte Welt überreichen? Stattdessen fühlte es sich an, als würde ihre Last mit dem Ungleichgewicht der Welt auf unseren Schultern weitergetragen werden.

Hier im Regenwald verstand ich zum ersten Mal, wie tief dieses Zitat wirklich reicht — und wie anders es gemeint ist.
Hier wurde klar: Wir nehmen nicht nur, wir geben weiter. Wir leben nicht nur, wir schützen. Wir empfangen und wir bewahren.

Vielleicht war es genau das, was diese Reise mit meinem Bruder so bedeutungsvoll machte:
Dass wir beide — jeder auf seine Weise — gespürt haben, dass das Wertvollste, das wir hinterlassen können, nicht Dinge sind, die wir nehmen, sondern Geschichten und Erfahrungen, die wir teilen. Ein Bewusstsein dafür, wie wir die Welt erleben — und wie wir die Verbindung zu ihr weitergeben.

Ein Bewusstsein dafür, was unsere Ahnen auf sich nehmen mussten, um uns all diese kulturellen Schätze zu hinterlassen.

MAI – Essaouira, Marokko

Marokko ist ein Land, das sich bei jeder Reise neu gezeigt hat. Zwischen dem Mittelmeer und dem Atlantik, dem Atlasgebirge und der Sahara verbinden sich Welten: lebendige Küstenstädte, jahrtausendealte Königsstädte, Berberdörfer in den Bergen, weite Dünen, oasenhafte Täler und Gassen, die Geschichten erzählen. Mit jedem Besuch entdeckte ich etwas Neues.

Essaouira wurde mir oft empfohlen, und dennoch kam ich erst 2019 hierher. Nach kalten Tagen in Fes wollten wir weiter südlich, dorthin, wo es wärmer ist. Und genau dadurch bot sich Essaouira — nach jahrelanger Empfehlung — schlussendlich an.

Schon beim Ankommen beeindruckten mich die Farben der Stadt. Die weißen Mauern, durchzogen von kräftigem Blau, spiegelten das Zusammenspiel von Himmel und Atlantik wider. Der Wind trug den Geruch von Salz und Freiheit mit sich, die Wellen berauschten mit ihrem Klang gegen die alten Stadtmauern.

Die Gassen gleichen einem farbenfrohen Mosaik aus Gewürzen, Teppichen, Keramik, Musikinstrumenten, leuchtenden Stoffen und traditioneller Kunst. Zwischen all dem bewegen sich Menschen in einem Rhythmus, der langsam, herzlich und geerdet wirkt. Dabei scheint das Licht magisch durch die schmalen Wege und lässt die Stadt wie ein antikes Gemälde erscheinen — zeitlos, warm und farbenfroh.

Besonders der Fischerhafen hat mich berührt. Ein Ort, an dem der Tag vor Sonnenaufgang beginnt: Männer, die Netze flicken, unzählige blaue Holzboote, die im Wasser schaukeln, Möwen, die kreisend nach Fischresten Ausschau halten.

Der Hafen erzählt von Generationen von Fischern, deren Hände nicht nur Nahrung aus dem Meer holen, sondern ein Stück Menschheitskultur bewahren — eine Kultur von Fleiß, Gemeinschaft und tiefer Verbundenheit mit der Natur.

Essaouira ist außerdem ein Ort, an dem viele Kulturen ihren Platz gefunden haben: arabisch, amazigh, jüdisch, afrikanisch und europäisch. Die alten Synagogen, die bis heute bestehen, erinnern an die jüdische Gemeinschaft, die hier über Jahrhunderte lebte und das Stadtbild prägte. Diese Vielfalt ist nicht nur sichtbar — sie ist spürbar.

Und dann ist da die Musik, die den Alltag feierlich begleitet: nicht nur die traditionelle Gnawa-Musik, sondern auch alternative Musikfestivals, die Essaouira zum Treffpunkt für Künstler aus aller Welt machen. In Essaouira verschmelzen Kulturen — Musik wird hier zu einer Brücke zwischen Welten.

In dieser Stadt spürte ich, wie unterschiedlichste Menschen mit dem Rhythmus des Windes leben. Wie sie lernen, die Strömungen anzunehmen, anstatt Mauern dagegen aufzubauen.

Und genau das brachte mich zu dem Zitat dieses Monats:

„Wenn der Wind des Wandels weht, bauen manche Mauern, andere wiederum Segel.“

Essaouira erinnert mich daran, dass Veränderung Teil des Lebens ist.
Dass Freiheit nicht darin liegt, nur einer Sache nachzujagen und sich für alles andere zu verschließen,
sondern darin, dem Wind zu vertrauen
und die Segel entsprechend zu setzen.

JUNI – Konya, Türkei

Schon seit langem wollte ich den Tanz der Derwische mit eigenen Augen sehen – ihn mit dem Herzen erleben. Etwas daran hatte mich gerufen, obwohl ich nie zuvor dort gewesen war – zumindest nicht in diesem Leben.

Vielleicht aber auch, weil ich aus der alevitischen Tradition meiner Eltern ähnliche Sema-Bewegungen kannte. Denn im Alevitentum wird Sema während der Gebetszeremonie aufgeführt: kreisende Schritte, Bewegungen, die sich aus dem Herzen erheben und wieder dorthin zurückführen.

Hinzu kam Rumis Poesie, die mich schon Jahre davor erreicht hatte. Seine Worte trafen direkt ins Herz – vielleicht, weil sie aus seinem eigenen Herzen kamen. Ein Ausdruck von Liebe und Verbindung: mit sich selbst, mit Gott, mit dem Sein.

Dadurch wurde Konya für mich nicht einfach ein Reiseziel, sondern ein Ort innerer Begegnung.

Nicht nur Rumi ist hier begraben, sondern auch sein Lehrer Shams-e Tabrizi, der Rumis Leben tief geprägt hat. Ihre Beziehung, ihr Austausch, ihr spirituelles Feuer prägen bis heute die mystische Atmosphäre dieser Stadt.

Konya trägt all das in sich: die Sufi-Tradition, die Geschichte der Liebe zu Gott und die Suche nach dem Wesentlichen.

Als ich schließlich den Sema, den Tanz der Mevlevi-Derwische, miterlebte, verstand ich, warum dieser Ort Menschen seit Jahrhunderten anzieht.

Es ist kein Tanz im herkömmlichen Sinn – auch wenn er oft so verstanden wird.

Der Sema ist eine Gebetsbewegung, eine kosmische Zeremonie, eine Hingabe. Er wird von einem Sufi-Orden ausgeführt, dessen Mitglieder – darunter auch viele junge Menschen – sich dem Weg der inneren Läuterung und göttlichen Liebe widmen. So wie auch der Derwisch auf meinem Bild.

Der Derwisch dreht sich nicht, um etwas vorzuführen, sondern um sich selbst zu ent-grenzen. Nicht, um etwas zu erreichen, sondern um loszulassen.

Mit einer Hand geöffnet zum Himmel und der anderen zur Erde wird er zur lebendigen Brücke zwischen beiden Welten. Sein weißes Gewand – symbolisch für Reinheit und das Ablegen des Ego – dreht sich wie ein stiller Atemzug.

Der hohe, braune Filzhut (Sikke) steht für den eigenen Grabstein – das Ablegen des weltlichen Seins.

In seinem kreisenden Rhythmus scheint er aufzugehen in etwas, das keine Worte braucht.

Mich berührte vor allem der sanfte, hingebungsvolle Blick des Jungen: nicht nach außen gerichtet, sondern in sich versunken. Verbunden im Herzen mit etwas Größerem – etwas, das der Verstand nicht begreifen kann.

Das Bild möchte ich Rumi widmen. Er prägte mich mit einem Zitat, das mich bis heute begleitet:

„Du bist kein Tropfen im Ozean. Du bist der gesamte Ozean in einem Tropfen.“

Jeder Mensch trägt eine eigene Welt in sich, ein eigenes Universum, eine Tiefe, die weit über das hinausgeht, was wir verstehen können.

Wir spiegeln mit unserem Sein das gesamte Universum – nicht als getrenntes Individuum, nicht als einzelner Tropfen, sondern als Teil des Ganzen.

Die Sufi-Lehre sagt, dass der Weg zu Gott durch das Herz führt – und dass alles, was wir suchen, bereits in uns wohnt. Nicht als Besitz, sondern als Bewusstsein.

Konya hat mich daran erinnert, wie sehr wir uns im Außen verlieren – und wie heilsam, tief und getragen die eigene Mitte sein kann.

So wie die Derwische sich drehen, um in ihrer Mitte anzukommen, so drehen wir uns durchs Leben, bis wir verstehen, dass die Antwort nicht im Außen liegt, sondern im Inneren.

JULI – Isla del Sol, Bolivien

Die Isla del Sol (auf Spanisch „Sonneninsel“) im Titicacasee ist ein Ort, der nicht nur geografisch besonders ist, sondern auch energetisch. Seit Jahrhunderten wird erzählt, dass hier starke Energielinien der Erde, oft als Ley-Linien oder Chakrenpunkte bezeichnet, zusammenlaufen. Für viele indigene Gemeinschaften gilt die Insel als einer der heiligsten Orte der Anden.

Hier wurden laut Inka-Mythologie die ersten Menschen erschaffen. Der Beginn einer Hochkultur, die sich heute so schlicht, so menschlich, so nah zeigt.

Als ich 2018 mit meinem Bruder von Bolivien in Richtung Peru reiste, verbrachten wir einige ruhige und friedliche Tage auf dieser Insel. Vielleicht lag es an der besonderen Energie dieses Ortes, dass sich alles leichter, klarer und gleichzeitig tiefer anfühlte. Als würde die Zeit für einen Moment stillstehen.

An einem dieser Tage sahen wir ein Kind, das einen Esel entfesselte. Ein stiller Moment — und dennoch kraftvoll, berührend.

Der Esel — ein Tier mit einer Kraft, die ein Kind niemals halten könnte — stand ruhig da, fast ergeben in die Beziehung, die zwischen ihnen bestand. Obwohl der Esel mit seiner Kraft die Fesseln jederzeit sprengen konnte, blieb er unbewegt auf derselben Stelle stehen. Vielleicht aus Vertrauen, vielleicht aus Angst, vielleicht aus Verbundenheit, vielleicht aus Abhängigkeit.

Und das Kind, höchstens acht oder neun Jahre alt, übernahm diese Aufgabe mit einer Selbstverständlichkeit, die mich berührte. Dort, wo wir im Westen Kindheit oft mit Leichtigkeit, Spiel und unberührter Freiheit verbinden, tragen Kinder in anderen Kulturen verantwortungsvolle Aufgaben, die größer wirken als ihre Körper.

Nicht aus Zwang, sondern als Teil des familiären Gefüges — als Beitrag, als Verbundenheit. Als Teil eines gemeinsamen Lebens.

Ich hatte den Esel bereits den halben Tag in der Sonne angebunden gesehen. Und als der Junge ihn schließlich von der Fessel löste, fragte ich mich unweigerlich:

Was bedeutet Freiheit wirklich?
Ist der Esel frei, weil er laufen kann?
Ist das Kind unfrei, weil es Verantwortung trägt?
Oder ist es vielleicht umgekehrt?

Aus diesen Gedanken heraus entschied ich mich für dieses Zitat:

„Wahre Freiheit ist nicht die Abwesenheit von Fesseln, sondern das Wissen, welche uns wirklich festhalten.“

Der Esel war stark genug, jede körperliche Fessel zu sprengen — und blieb doch. Das Kind war klein, scheinbar schwach — und trug dennoch Verantwortung: selbstverständlich, präsent, verbunden.

Es heißt, Verantwortung sei die Freiheit des Erwachsenen. Und vielleicht ist das wahr.

Denn das Kind war frei von unzähligen Ablenkungen und Möglichkeiten, die Kinder im Westen oft haben — frei von Trends, von Reizüberflutung, von dem Druck, immer mehr sein oder tun zu müssen.

Wir definieren Freiheit oft als „frei sein für etwas“: alles konsumieren zu können, alles zu erleben, alles zu wählen.

Doch bedeutet Freiheit nicht auch, frei von allem zu sein?
Frei davon, getrieben zu sein?
Frei davon, jedem Impuls oder Trend folgen zu müssen?

AUGUST – Çiftlikköy, Türkei

Çiftlikköy ist die Heimat meiner Eltern. Ihr Boden, ihre Erinnerungen, ihre Geschichten.

Ein Ort, den sie 1993 als Flüchtlinge verlassen mussten — und der dennoch ein Teil unserer Identität geblieben ist. Verbunden mit diesem sehnsüchtigen Gefühl von Heimat, das sie uns vererbt haben — dem Gefühl, das sie Memleket-Hasreti nennen.

Immer wenn ich nach Çiftlikköy zurückkehre, spüre ich etwas, das ich schwer erklären kann:

eine tiefe Ruhe, einen Frieden, der nicht gesucht werden muss, eine ursprüngliche Verbindung zur Natur und dieses vererbte Gefühl von Heimat, das sich ausbreitet, ohne zu fragen.

Kühle Quellen, klare Luft, stille Berge. Menschen, die mit dem wenigen auskommen, das sie haben — und darin eine Fülle finden, die sie von Herzen teilen.

Ein Leben, das ursprünglich ist und die Menschlichkeit bewahrt hat.

Die Gastfreundschaft ist hier grenzenlos. Auch wenn die Menschen mich nicht wirklich kennen, reicht der Name meiner Eltern — und sofort öffnet sich eine Tür, ein Lächeln, ein Platz am Tisch.

Alles wird angeboten, geteilt, weitergegeben — als wäre die Verbindung selbstverständlich.

Die Frau auf meinem Bild ist eine von ihnen. Man erzählte mir, sie sei bereits über hundert Jahre alt.

Ihr blindes Auge erzählt von Weisheit — von einem Leben, das alles gesehen hat: Tod und Geburt, Winter mit haushohem Schnee, Knospen, die zu Bäumen wurden.

Ihr sehendes Auge hingegen strahlt Klarheit aus. Sie war geistig wach, präsent, konnte meinen gesamten Stammbaum aufzählen — mit Namen von Menschen, die ich selbst nicht kannte.

Beides zusammen trägt die Würde eines Lebens, das nicht leicht war und dennoch aufrichtig getragen wurde.

Ihre Haare, mit Henna gefärbt, sind Ausdruck einer jahrhundertealten Tradition der Frauen hier. Ebenso ihr Kopftuch — ein kulturelles Erbe, kein religiöser Zwang.

Als ich sie besuchte, empfing sie mich warmherzig, als wäre ich nicht Gast, sondern Teil ihrer eigenen Geschichte.

Manche Gesichter sind wie Landkarten: Falten, die vom Leben gezeichnet wurden, Blicke, in denen sich ganze Universen spiegeln, und eine Stille, die so tief ist, dass sie zu Demut wird.

Dieses Bild verbinde ich mit dem Zitat dieses Monats:

„Es gibt zwei Arten von Menschen: die demütigen und jene, die es noch nicht sind.“

Demut ist nichts, das man in jungen Jahren greifen kann. Es ist etwas, das das Leben einen lehrt — langsam, stetig, unweigerlich.

Sie schien mir eine demütige Frau, die nichts mehr beweisen musste. Die gelernt hatte, das Leben zu nehmen, wie es kommt — mit einer Ruhe, die stärker war als jedes Wort.

Vielleicht ist es genau das, was mich an den Menschen aus der Heimat meiner Eltern so berührt:

Sie tragen ihre Geschichte nicht in Worten, sondern in ihrem Blick — ein Blick, der ihr Wesen spiegelt.

SEPTEMBER – Shiraz, Iran

Shiraz — die Stadt der Dichter, der Gärten, der Rosen.

Die Heimat von Hafez und Saadi, deren Worte bis heute die Herzen berühren.

Die Architektur von Shiraz erzählt von Schönheit — nicht durch Größe, sondern durch Harmonie, Symmetrie und Farben.

Reisende führt es unweigerlich zur Nasir-al-Molk-Moschee — der „Pink Mosque“.
Es ist ein Ort, an dem Licht selbst zu einem Gebet wird.

Die berühmten Fenster dieser Moschee brechen die Sonne in Rosa, Blau, Grün und Gold, als würde Gott durch die Farben sprechen.

Die islamische Architektur hier ist ein Ausdruck der Liebe: präzise Wiederholungen, geometrische Muster, ein Streben nach Schönheit, das aus Andacht geboren ist.

Inmitten dieses Farbenmeeres saß eine junge Frau — eine Reisende, wie ich später erfuhr. Ihr Körper still, ihr Blick versunken. Die Farben umhüllten sie. Ein Bild, das mich tief berührte.

Was mich im Iran überraschte, war, wie viele Frauen ich traf, die allein reisten: aus China, Argentinien, Frankreich, Italien, aus Nordamerika — aus allen Teilen der Welt.

Frauen, die den Iran nicht über Schlagzeilen, sondern über Begegnungen entdeckten.

Denn vieles, was wir über Länder hören, ist nur ein Bruchstück — ein Splitter aus einem Spiegel, der uns als Wahrheit verkauft wird. Oft aus einer westlichen, aufgesetzten Perspektive.

Doch Wahrheit ist weit größer als ein einzelnes Bild.

„Die Wahrheit ist ein Spiegel, der aus der Hand Gottes fiel und in unendlich Teile zersprang. Jeder nahm ein Stück davon und dachte, er hätte die ganze Wahrheit.“

Wie oft halten wir unseren kleinen Splitter für das Ganze? Unsere Vorstellungen für Realität? Unsere Perspektiven für die einzige Wahrheit?

Der Iran lehrte mich etwas anderes: dass ein Land nicht das ist, was wir darüber hören — sondern das, was wir erleben.

Und was wir erleben, ist immer auch Resonanz: eine Antwort darauf, wie wir einem Land, einem Menschen, dem Leben begegnen.

Ich reiste tagelang mit ganz unterschiedlichen Menschen — Frauen, Männern, Einheimischen, Reisenden — durch Wüste, Städte und Dörfer. Wir teilten Essen, Gespräche und Stille.

Und ich erkannte, wie sehr Menschen einander tragen können, selbst wenn sie sich kaum kennen — durch das, was sie teilen.

Das Bild dieser Frau, umhüllt von Licht, wurde für mich zu einem Sinnbild:
für die Splitter, die wir mit uns tragen, für die Perspektiven, die uns prägen, und für die Bedeutung von Verbindung, um das Ganze zu erkennen.

Nicht durch das Festhalten an einem einzigen Stück, sondern durch das Verstehen, dass jeder von uns aus einer einzigartigen Perspektive sieht.

Shiraz hat mich gelehrt, dass Wahrheit ein Mosaik ist — ein Spiel aus Licht und Schatten.

Und dass wir erst dann beginnen, die Welt zu verstehen, wenn wir unsere Splitter zusammenlegen und bereit sind, das Ganze zu sehen.

OKTOBER – Essaouira, Marokko

Essaouira ist eine dieser Städte, von denen es so viel zu erzählen gibt. Ich weiß, dass ich dort eines Tages mehr Zeit verbringen möchte, denn Essaouira offenbart sich mit jedem Besuch aufs Neue.

Doch eines lässt sich nicht wirklich teilen — nicht festhalten, nicht abbilden: der Rhythmus dieser Stadt.

Essaouira ist ein Ort, an dem Zeit nicht gejagt wird, sondern sich ausbreiten darf. Ein Ort, an dem das Leben im eigenen Tempo schwingt, und genau dieser Rhythmus trägt alles.

An diesem Tag sah ich einen Mann, der in einem kleinen Transportwagen lag, umgeben von den Stimmen und der Bewegung der Menschen. Nicht versteckt, nicht abgeschirmt — einfach da, präsent und zugleich versunken in sich.

Als würde er in genau diesem Moment dem Bedürfnis seines Körpers folgen: dem nach Ruhe, dem nach Atmen, dem nach Sein. Dem, was er fühlte — ohne es zu erzwingen.

Es war ein Bild, das mir sofort vertraut vorkam, weil man es im Orient oft sieht. Hier ist Ruhe kein Ausnahmezustand, kein Zeichen von Schwäche, kein „Schnell weiter“.

Ruhe ist Teil des Lebens. Pausen sind selbstverständlich. Niemand muss erklären, warum er sitzt, liegt, atmet, ruht.

Wir im Westen haben gelernt, dass Ruhe verdient werden muss — „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Als wäre Stille eine Belohnung, nicht ein Grundrecht.

Doch dieser Mann ruhte, als sei es das Natürlichste der Welt. Versunken in sich, in Einklang mit seinem eigenen Rhythmus — nicht von außen getaktet. Er zwang nichts, er hielt nichts fest, er war einfach nur.

Darum habe ich mich bei diesem Bild für dieses Zitat entschieden:

„Wer es fühlt, erzwingt es nicht.
Wer es erzwingt, fühlt es nicht.“

Denn wir können Gelassenheit nicht herbeizwingen. Nicht mit Disziplin, nicht mit Kontrolle, nicht durch Methoden oder Vorstellungen.

Gelassenheit entsteht, wenn wir aufhören, gegen den Moment anzukämpfen und beginnen, in Resonanz mit uns selbst zu treten.

In Essaouira spürt man das überall: in den Gesichtern der Menschen, in der Art, wie sie sprechen, arbeiten, gehen, leben.

Dieser Mann in seinem kleinen Wagen erinnerte mich daran, mir selbst und meinen Gefühlen aufrichtig zu sein. Der eigenen Intuition zu vertrauen. Dem Körper zuzuhören — nicht erst, wenn er schreit, sondern wenn er leise flüstert.

Der Körper ist ein Geschenk des Lebens. Ihn zu wahren, ihm Raum zu geben, ist unser Geschenk an das Leben. Unabhängig davon, wo man ist — ob auf einer Bank, in einem Stuhl oder in einem improvisierten Transportwagen — Ruhe findet uns dort, wo wir aufhören, aus dem Kopf zu erzwingen, und beginnen zu fühlen.

NOVEMBER – La Paz, Bolivien

Das Valle de la Luna — das „Tal des Mondes“ — trägt seinen Namen nicht ohne Grund.

Die Landschaft sieht aus, als sei sie aus einer anderen Welt. Wind, Wasser und Zeit haben die Erde über Jahrtausende zu zerklüfteten Felsnadeln, sandigen Türmen und mondähnlichen Formationen geformt. Ein Tal, das wirkt, als hätte die Natur hier einen stillen Tanz aufgeführt.

Inmitten dieser unwirklichen Landschaft stand der Mann auf meinem Bild:
ein indigener Einwohner, traditionell gekleidet, sein Poncho weit im Wind.

Er balancierte auf einer hohen Felsformation — die Arme ausgebreitet, und spielte für sich Musik.

Kein Publikum, kein Applaus. Nur er, die Höhe, der Wind und die Töne seiner Flöte.

Es wirkte wie ein Moment reinen Ausdrucks — als würde er nicht posieren, sondern mit der Musik tanzen, die er selbst erschuf.

Und in diesem Tanz schien etwas durch ihn hindurch zu fließen: ein indigener, fröhlicher Geist, eine Erinnerung, ein Erbe, das den Weg durch seine Hände, seinen Atem, seine Bewegung fand.

Er hatte die Gabe, der Landschaft Leben einzuhauchen — durch seinen Klang und seine Präsenz. Und seine Aufgabe schien es, genau das zu teilen.

Darum verbindet sich für mich dieses Bild so tief mit dem Zitat:

„Wo deine Gaben liegen, da liegen auch deine Aufgaben.“

Oft denken wir bei Gaben an etwas, das wir besitzen — Talent, Fähigkeit, Stärke.

Doch auf Reisen lernte ich, dass Gaben nicht das sind, was wir können, sondern das, was wir geben.

Manchmal ist die Gabe Mut, manchmal Ausdruck, manchmal Tiefe, manchmal Leichtigkeit. Manchmal ist sie schlicht die Fähigkeit, auf einem Felsen zu stehen und sich auszubreiten, auch wenn die Welt darunter brüchig ist.

Die Aufgabe liegt dann darin, dieser Gabe zu folgen, ihr Raum zu geben, sie in Handlung zu verwandeln.

Denn jeder Mensch trägt etwas in sich, das die Welt nur durch ihn erfahren kann: eine Farbe, ein Klang, eine Bewegung, eine Sicht, eine einzigartige Weise zu sein.

Der Mann auf meinem Bild erinnerte mich daran, dass wir unsere Gaben nicht nur teilen, wenn jemand zusieht. Sondern dass wir sie auch leben dürfen, wenn niemand zuschaut — für uns selbst.

Zu tanzen, zu singen, zu musizieren, weil es aus uns kommt, nicht weil es jemand erwartet.

Manchmal ist genau das unsere größte Gabe. Und unsere wichtigste Aufgabe.

DEZEMBER – Fès, Marokko

Fès ist eine Stadt, die man nicht einfach nur besichtigt — man taucht in sie ein.

In ihre Gassen, in ihre Märkte, die in Farben schimmern, in Düfte von Leder, Gewürzen und Minztee, und in Handwerk, das an jeder Ecke gelebt wird.

Als ich den Mann auf meinem Bild sah, hielt ich inne mitten in diesem lebendigen Chaos. Er saß im Eingang seines kleinen Geschäftes, umgeben von Keramiken, Textilien und Ornamenten — alles Werke, die die Spuren von lebenden Händen tragen, nicht von Maschinen.

Durch das Licht fiel der Rauch, der in der Luft schwebte, als wäre er beseelt. Jeder Funke Licht, der ihn traf, wirkte wie ein Tanz des Atems und des Windes.

Der Mann las — versunken, ruhig, als sei er allein mit dem Moment, trotz all der Bewegungen um ihn herum.

Nichts an ihm wirkte gehetzt. Nichts drängte. Nichts eilte.

In solchen Momenten, die in Marokko nicht ungewöhnlich sind, scheint es mir, dass die Menschen hier nicht wie wir in Mitteleuropa durchgeplant und durchtaktet sind.

Denn er schien mir, als wäre er genau dort, wo das Leben wirklich stattfindet — jetzt.

Ich hatte das Gefühl, dass er vollkommen im Moment war. Ganz im Leben. Ganz im Hier.

Und genau aus diesem Grund entschied ich mich für das Zitat dieses Monats:

„Das Leben ist das, was passiert, während wir beschäftigt sind, andere Pläne zu machen.“

Wie oft sind wir so sehr mit Zukunftsgedanken beschäftigt, dass wir die Gegenwart verpassen? Wie oft übersehen wir den Moment, weil wir auf der Suche nach einem anderen sind?

Dieser Mann jedoch schien etwas zu verkörpern, das im westlichen Leben so leicht verloren geht: das Einverständnis mit dem Jetzt.

Genau das ist es, was mich an Marokko immer wieder berührt: diese Fähigkeit, sich mitten im Alltag zu verlieren — in einer Tasse Minztee, im Sonnenlicht auf der Haut, im Klang eines Gesprächs, in der Stille zwischen zwei Atemzügen.

Der Dezember ist oft ein Monat der Pläne, der Erwartungen, der Jahresabschlüsse. Doch er ist auch ein Monat der Einkehr, der Besinnung, der Ruhe.

Die Natur macht es uns vor: Sie wirft ab, sie lässt los, sie legt ihre Krone nieder — und ist dennoch ganz. Sie zieht sich zurück, um Kräfte zu wahren für das, was im Verborgenen wächst.

Vielleicht möchte dieser Monat genau das von uns: dass wir still werden, uns sammeln, auf das Wesentliche zurückkehren und das Leben dort empfangen, wo es wirklich geschieht — nicht in Plänen, sondern in Momenten.

JANUAR ’27 – Konya, Türkei

Der Kalender beginnt mit einem tanzenden Derwisch — und auch das neue Jahr beginnt mit ihnen.

Für mich fühlt sich das an wie ein Kreis: ein Kreis, der sich schließt und doch damit neu beginnt. Ein Kreislauf — so wie es die Derwische tun. Es ist dieselbe Zeremonie, derselbe Raum, dieser stille Tanz, den ich im Juli erlebte.

Doch diesmal trägt er eine andere Bedeutung: Er blickt in das neue Jahr hinein.

Die Derwische drehen sich, um ihr Inneres zu finden. Sie drehen sich, um loszulassen. Um sich zu öffnen. Um zu erinnern, dass alles, wonach wir suchen, bereits in uns wohnt.

Und während ich dieses Bild betrachte, fühle ich wieder das, was mich damals schon berührt hat: diese Stille im Inneren. Dieses Zurückkehren. Dieses Ankommen im Herzen.

Doch diesmal ist noch etwas anderes da: ein Gefühl von Ausrichtung. Ein leises, aber deutliches:

In diesem Kalender sind ausschließlich Menschen abgebildet — Menschen aus aller Welt. Und damit eine Erinnerung daran, dass wir als Menschen für Menschen da sein sollten.

Wie das afrikanische Sprichwort sagt: „Der Mensch ist des Menschen beste Medizin.“

Denn was mich auf all meinen Reisen am tiefsten berührt hat, waren nie Orte, nie Sehenswürdigkeiten, nie Pläne. Es waren die Menschen. Ihre Blicke. Ihre Geschichten. Ihr Wesen. Ihre Menschlichkeit.

Menschen aus aller Welt haben mir auf meinen Reisen etwas gezeigt, das tief in meinem Sein Anklang gefunden hat: das Mensch-Sein. Jenseits von Gutem und Schlechtem. Jenseits von Rollen, Erwartungen, Masken.

Vielleicht ist es genau das, was dieser Tanz ausdrückt: dass wir uns in der Begegnung selbst erkennen. Und dass wir Heilung nicht nur suchen, sondern einander schenken können.

Zum Jahresbeginn wünsche ich uns allen, dass wir Menschen begegnen, die uns gut tun.
Dass wir selbst ein Mensch sind, der anderen gut tut.
Und dass wir erkennen, wie sehr wir einander tragen können.

Ich wünsche uns Mut, unser eigenes Zentrum zu finden — und die Sanftheit, es immer wieder neu zu suchen.

Ich wünsche uns Vertrauen, den Weg zu gehen, selbst wenn wir ihn noch nicht sehen.

Und ich wünsche uns Dankbarkeit, für alles, was uns formt und alles, was uns befreit.

Danke an dieses Jahr für all die Wege, die Begegnungen, die Erfahrungen.
Danke an die Menschen, die mich berührt haben — und an jene, die sich von mir haben berühren lassen.


Danke, dass du dir Zeit genommen hast,
meine Reisen, Begegnungen und Geschichten mit mir zu teilen

Wenn du möchtest, dass diese Augenblicke dich ein Jahr lang begleiten,
kannst du den Kalender hier bestellen: